Hanau: Eine Kette des Versagens
- Der Attentäter ermordete neun Menschen in zwölf Minuten und niemand hielt ihn davon ab. Er hatte den Raum, den Plan, die Freiheit, die Organisation und den Schutz dafür.
DÎLAN KARACADAG
Knapp acht Monate ist es her, dass ein Attentäter in Hanau neun Menschen ermordete. Der Täter Tobias Rathjen, hatte seine Opfer gezielt nach deren Migrationsgeschichte ausgewählt. Es bestand schnell Einvernehmen, dass es ein rassistischer Anschlag war. Schneller als zuvor(!). Schneller; dennoch weder schnell genug noch hinlänglich. Kurz nach dem Anschlag wurden die Hinterbliebenen mit dem Vergleich mit NSU-Morden konfrontiert. Wenn es den Behörden nach ginge, sollten sie sich damit zufrieden geben, dass „zumindest“ die Tat als rassistisch anerkannt wurde. Doch darum geht es schon lange nicht mehr. Rassismus ist ohnehin strukturell. So ist es belanglos, dass genau diese Strukturen die Tat als rassistisch sehen. Diese kann aber nur am Rande erwähnt werden. „Einzelfälle“ und „Einzeltäter“ sind Begriffe, die als Deckmantel dieser Strukturen dienen. Die Frage „Konnte die Tat verhindert werden können“ ist überfällig. Der neue Trend ist „Wieso wurde die Tat nicht verhindert?“
Politikwissenschaftlerin Dastan Jasim hat über social media mit einem Video drauf hingewiesen, dass Rassismus verschiedene Stufen hat und dass der individuelle Rassismus von den übergelegenen, also strukturellen und institutionellen reproduziert wird. Hier möchte ich einige Zitate von ihr wiedergeben um aufzuzeigen, wie wichtig es ist, Rassismus zu erkennen und gut einzuordnen.
Durch Gesetzte, Regeln, Rechte, Unrechte, Gerichtsbarkeit, politische Systeme, Parteiensysteme und Staatssysteme werden rassistische Strukturen gegeben, die diese dann auf eine institutionelle Ebene bringen. Was bedeutet, dass ein Staat mit ihren Vorgaben ihre Strukturen ausnutzt, um organisiert gegen eine andere Gruppe zu agieren. Das ist struktureller Rassismus und dient dem Staat sein kapitalistisches System zu fördern. «Das kapitalistische System hat ein Interesse daran, dass Rassismus weiter existiert» sagt Dastan und begründet dies wie folgt: «Das kapitalistische System läuft ohnehin auf eine Monopolisierung hinaus und dass das System durch Monopolisierung und Kapitalakkumulation irgendwann auf eine Krise zusteuert, die bis zu einem bestimmten Punkt unweigerlich zur Krise führt. Und bis dahin braucht man Bevölkerungsgruppen, die dazu gedrängt werden, zu denken, dass ihr Dasein in der Arbeiterklasse, in der unterdrückten und ausgebeuteten Lohnarbeiterklasse eine Rechtfertigung hat. Also hat das einen wirtschaftlichen Mehrgewinn.» Was darunter auch zu verstehen ist, dass Menschen, die gegenüber eine bestimmte Gruppe rassistisch sind und so vom Staat erzogen worden sind. «Der Staat braucht Millionen von Menschen, die unterdrückt sind, die schlecht bezahlt, die strukturell diskriminiert sind und sich nicht wehren können um damit im Marktsystem weiterzuflößen.
Um auf den Fall in Hanau zurückzukommen… Kurz nach dem Anschlag von Hanau war sofort klar: Die Behörden haben versagt. Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) bestand drauf, dass «Behörden alles richtig gemacht» haben und der Täter Rathjen der Polizei nicht bekannt gewesen war. Zudem nannte er ihn «fremdenfeindlich».
Der rechtsextreme Täter Tobias Rathjen hat beim Generalbundesanwalt am 8. November 2019 eine Strafanzeige erstellt. In der 19-seitige Anzeige war die Rede von der Vernichtung bestimmter Nationalitäten. Dieses als «fremdenfeindlich» zu definieren, ist eine Verharmlosung der Tat. Rathjen ist mehrmals vor dem Anschlag mit rassistischen Agieren aufgefallen. Bereits im Jahr 2000 habe er einen Schwarzen Mann mit einer Pistole gedroht. Weitere Warnsignale gab es auch 2017. Er habe Jugendliche bedroht. Armin Kurtović, der Vater des ermordeteten Hamza Kurtovićerklärt, dass weder die Aussagen richtig aufgeschrieben worden sind, noch eine Ermittlung eingeleitet wurde. Auch Mai 2018 haben Jugendliche ihn vermummt aus dem Gebüsch kommen sehen und wurden mit einem Sturmgewehr bedroht. Die Jugendlichen alarmierten die Polizei, die wieder der Tat nicht nachgegangen ist.
In der Nacht des Anschlages schießt Rathjen dreimal auf Vili Viorel Păuns Auto. Viermal ruft Vili die Polizei an, aber er kommt nicht durch. Offenbar hat er noch versucht, den Täter auf dem Weg zum zweiten Tatort zu stoppen. Vili hat seinen Mut mit dem Leben bezahlt.
"Vili ist ein Held" sagt Vater Păun. Am 19. September wurde eine Gedenkstätte für den "Helden von Kesselstadt" eingeweiht. Die Behörden jedoch haben sich zu diesem Fall nicht geäußert. Noch heute wissen wir nicht, warum die Polizei nicht zu erreichen war.
Ein weiteres Ereignis, ebenso in der Tatnacht: Piter Minnemann, der als Einziger den Anschlag überlebt hat, wird der Polizei wohl nie mehr vertrauen können. Piter war am Abend im ersten Tatort, in der Midnight Bar, gemeinsam mit seinen Freunden. Am 22. August in einer Kundgebung in Hanau berichtet Piter über die Nacht: „Am Tag, als meine Freunde erschossen wurden, hat die Polizei mich nicht ernst genommen. Eine Stunde nach meinem Anruf kam die Polizei. Was hätte in dieser Stunde noch alles passieren können? Ich habe den Beamten erzählt, dass Menschen erschossen wurden. Doch ich hatte das Gefühl mit einer Wand zu reden. Erst nach zehn Minuten sind die Polizisten in die Bar gerannt.“
»Hätten die (Ämter und Behörden) ihre Arbeit richtig gemacht, wäre mein Bruder noch am Leben« so Çetin Gültekin, Bruder des ermordeten Gökhan Gültekin. Nach einer Reihe von Versagen der Behörden ist dies eine gerechte Beschuldigung.
Der Attentäter ermordete neun Menschen in zwölf Minuten und niemand hielt ihn davon ab. Er hatte den Raum, den Plan, die Freiheit, die Organisation und den Schutz dafür.